„Du musst mich besuchen kommen! Bitte! Ohne dich … das geht einfach nicht!“ Eindringlich redete James Gringsten auf Bettina ein. „Wir machen eine Riesenparty. Zur Verlobung.“ Er lachte. „Ich weiß, du findest es sicher albern, aber Jack und ich … das ist es einfach! Und das wollen wir zunächst mal so besiegeln. Eventuell heiraten wir später sogar.“
„Ich freu mich so für dich.“ Bettina meinte es aufrichtig, aber der Gedanke, nach San Francisco zu fliegen und dort hautnah Anteil an James’ Liebesglück nehmen zu müssen … nein, das ging über ihre Kräfte.
„Dann verlob ich mich eben nicht!“
„Du benimmst dich wie ein trotziges Kind!“
„Du vielleicht nicht? Nur weil dieser Volltrottel von Modefritze dich nicht liebt, kannst du dich nicht in deinen vier Wänden vergraben.“ Er verlegte sich aufs Bitten. „Tu mir den Gefallen. Du bist der Mensch, der mir am meisten bedeutet – außer Jack natürlich.“
„Weißt du, wie weit es bis San Francisco ist?“
„Ja. Das weiß ich. Schließlich bin ich nicht von gestern.“ James wurde energisch. „Bettina, wenn du nicht in spätestens einer Woche hier bist, komme ich dich holen. Das schwöre ich dir!“
„Du bist verrückt, das hab ich immer schon gewusst.“ Sie lachte leise. „Glaubst du, ich bin Millionärin? Ich hab einfach kein Geld, um ununterbrochen durch die Welt zu jetten. Wir haben uns doch noch kurz vor Weihnachten gesehen. Da hättet ihr euch doch auch schon verloben können.“
„Da wussten wir noch nicht, dass wir für immer zusammen bleiben wollen.“ James lachte. „Du, er ist einfach süß in seiner Eifersucht. Kennst du das?“
Und ob sie dieses Gefühl kannte! Es tat weh. Furchtbar weh! Und leider ließ es sich mit dem Verstand nicht steuern. Sie versuchte es schon lange.
„Es ist total irre. Und du … du bist es auch.“
„Ich weiß!“ Der Mann lachte. „Aber es ist ein herrliches Gefühl.“
Kim, die das Gespräch zumindest einseitig verfolgt hatte, drängte Bettina ebenfalls zu der Reise. „Was hält dich hier? Du brauchst unbedingt Tapetenwechsel. Komm, ich seh im Internet nach, ob wir einen günstigen Flug kriegen.“
So stand Bettina eine Woche später in San Francisco in einer Villa am Meer. Die verglaste Terrasse war mit weißen Rosen geschmückt, Lohnkellner eilten hin und her und boten Champagner und Delikatessen an.
James und Jack waren ein total verliebtes Paar, und Bettina freute sich mit ihnen. Nach der Feier, sie hatte ein paar interessante Leute aus der Modeszene kennengelernt, saßen sie noch zu acht zusammen und überlegten, was man machen könnte, um die Kollektion eines unbekannten, aber sehr bekannten Designers populär zu machen.
„Ein Kalender.“
„Unsinn, das neue Jahr hat gerade erst begonnen, Kalender werden im Juli gedruckt und vertrieben.“
„Eine Modenschau hier bei Jack.“
„Zu wenig Publikum.“
„Was haltet ihr von einer Benefiz-Gala?“, schlug Bettina vor. „Das kommt doch gerade hier in den Staaten immer gut an. „Ihr müsstet nur die richtigen Leute zusammentrommeln.“
„Dann musst du aber fotografieren“, meinte James.
Bettina schüttelte den Kopf. „Das geht nicht. Ich muss heim. Ein paar kleine Aufträge, die ich unmöglich platzen lassen kann, dann wär mein Name ruiniert.“
„Bleib doch einfach hier.“ James nahm sie in den Arm. „Du kannst doch überall arbeiten. Was willst du in diesem kalten Hamburg? In der Nähe dieses Kerls, der … Ach, ich könnte ihn umbringen!“
Bettina schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren wieder dunkel vor Kummer – wie immer, wenn sie an Karsten dachte. Leider tat sie es fast vierundzwanzig Stunden am Tag. Da half es auch nichts, dass sie hier bei James viel Ablenkung hatte. Jetzt im Winter lernte sie San Francisco von einer anderen Seite kennen – und die war nicht weniger faszinierend als die der sommerlich heiteren Stadt, die sie schon kannte.
Während des Rückflugs überlegte Bettina, was sie in der nächsten Zukunft tun würde. Da waren zwei kleinere Aufträge in Hamburg, ein Shooting in Bremerhaven und ein Termin in Lübeck. Alles nichts Besonderes, aber es garantierte ein sorgenfreies Auskommen.
Hinterher, überlegte sie, werde ich mir ein paar Tage Kultur gönnen. In Worpswede mal wieder nach neuen Talenten Ausschau halten, vielleicht im Alten Land ein paar Aufnahmen machen … da sind die Leute noch unverbraucht. Da gibt es noch Gesichter!
Und wenn alle Stricke reißen, sinnierte sie weiter, nehme ich wirklich James’ Angebot an und ziehe für ein paar Monate in die USA. Irgendwas werd ich da schon zu tun finden. Hauptsache, ich kriege endlich Karsten aus dem Kopf!
+ + +
Er dachte immer und immer wieder über diese Szene nach: Nach einem tiefen Schlaf – so zumindest war es ihm vorgekommen – war er erwacht und hatte Bettina neben seinem Bett stehen sehen.
„Du bist da …“ Er wusste genau, dass er es gesagt hatte.
Und Bettina? Sie war davongerannt, als seien tausend Teufel hinter ihr her.
Im ersten Moment hatte er gar nicht begriffen, was sie davongetrieben hatte. Dann erst hatte er Elaine bemerkt. Elaine, die im Rollstuhl saß, ihre Hände um seine gesunde Hand geschlungen hatte und ihn mit ihren Blicken förmlich zu hypnotisieren schien.
„Endlich bist du wieder wach! Liebling, ich freu mich so! Jetzt sind wir wieder zusammen und bleiben es auch. Du … ich bin ausgebüxt. Was sagst du jetzt?“ Sie kicherte, es klang ein bisschen wahnsinnig. „Die haben tatsächlich geglaubt, ich ließe mich einsperren. Idioten!“ Sie drehte sich zu dem jungen Mann im Hintergrund um. „Nicht, Süßer, für ein paar Scheinchen vergisst du deine Pflichten.“
„Elaine, ich …“
„Nicht sprechen, Darling. Du musst dich noch schonen. Ich bin jetzt da – alles wird gut.“ Sie redete und redete – und erst das Kommen einer Schwester erlöste Karsten.
„Wie kommen Sie überhaupt hier rein?“, schimpfte sie. „Gehen Sie bitte, der Patient braucht Ruhe!“
Ehe Elaine protestieren konnte, griff Holger ein und schob den Rollstuhl rasch hinaus. Das fehlte noch, dass dieses verrückte Model hier Krach anfing. So schnell wie möglich brachte er Elaine zurück in die Psychiatrie, wo die Ärzte weiter versuchten, sie von ihrer Drogensucht – und der Bulimie, unter der sie litt – zu heilen.
Leider war Elaine total uneinsichtig. Und leider gab es „Freunde“, wie zum Beispiel Verena, die sie wieder mit Drogen versorgten, kaum dass sie aus der geschlossenen Abteilung entlassen worden war. Wenn nicht ein Wunder geschah, würde Elaine in wenigen Monaten nicht wiederzuerkennen sein. Manchmal bekam sogar Verena Angst bei dieser Vorstellung, aber dann sagte sie sich, dass es für sie von Vorteil war, wenn Elaine von ihr abhängig blieb. Das verlieh Macht. Einfluss. Ein verlockender Gedanke.
Davon ahnte Karsten nichts. Er erinnerte sich an alles, was geschehen war. An seine Liebesnacht mit Bettina. An die ärgerliche Szene, die er immer noch nicht verstand. An ihre Wut. An seinen Reitunfall – und daran, dass sie bei ihm gewesen war.
Drei Wochen musste er in der Klinik bleiben. Drei Wochen, in denen er zur Untätigkeit verdammt war, denn sogar die immer loyale Annette Berger weigerte sich, mit ihm eine Suche nach Bettina zu starten.
„Erst, wenn Sie wieder auf dem Damm sind, Karsten“, erwiderte sie mit stoischer Ruhe, sobald er davon sprach, Kontakt mit Bettina aufnehmen zu müssen.
„Ich will doch nur wissen, wo sie ist.“
„Das weiß ich nicht. Und es ist jetzt auch noch nicht wichtig. Werden Sie erst mal gesund, Chef.“
Sie sagte ‚Chef’ zu ihm – das war gefährlich. Dann war sie dumpf entschlossen, sich durchzusetzen.
Karsten sank in die Kissen zurück. Sein Kopf schmerzte immer noch. Er konnte noch nicht mal ein paar Seiten lesen, ohne dass es ihm vor Augen flimmerte. Er musste einsehen, dass es ihm zurzeit unmöglich war, nach Bettina zu suchen. Zumindest ging es nicht ohne Hilfe.
Nach zehn Tagen war er wieder so fit, dass er einige Anrufe tätigen konnte. Er sprach mit seinem kaufmännischen Leiter, mit der Designabteilung, mit zwei wichtigen Kunden, die eigentlich Ende Januar nach Deutschland hatten kommen wollen.
„Sie können gern mit Frau Berger verhandeln“, erklärte er den Herren. „Sie ist mit allen Vorgängen vertraut und ist meine engste Mitarbeiterin. Ich bin leider noch für einige Zeit ans Krankenbett gefesselt.“
Man zeigte Verständnis, und wie er etwas später von Annette Berger erfuhr, war der Besuch erfolgreich für KORY-Moden verlaufen.
Ein weiteres Telefonat führte er mit Verena Trautinger, der Agenturchefin, die Bettina hin und wieder Aufträge vermittelte.
„Es geht um die Eröffnung unserer neuen Boutique in St. Moritz“, kam er nach ein paar unverbindlichen Worten auf den Punkt. „Zunächst war ein Schweizer Fotograf vorgesehen, aber … wenn ich ehrlich bin, gefallen mir seine Bilder nicht. Zu kühl. Zu sachlich. Da fehlt das gewisse Flair. Und schließlich sollen unsere Produkte ja perfekt präsentiert werden.“
„Ich verstehe.“ Verena Trautinger am anderen Ende der Leitung grinste verstohlen. Was dachte sich Karsten Korten-Ryhoff? Dass sie hinter dem Mond lebte? Dass sie vom Branchentratsch gar nichts mitbekam? Inzwischen wussten es viele, dass da zwischen der schönen Bettina Gehrmann und dem Konzernchef mehr war als nur ein Flirt.
„Haben Sie eine bestimmte Vorstellung, wer stattdessen fotografieren soll?“, erkundigte sie sich und bemühte sich um einen sachlichen Ton.
„Ja, ich … also …“ Ein kleines Räuspern. „Ich habe an Frau Gehrmann gedacht. Bettina Gehrmann. Sie sind die Agentin, oder?“
„Ja … im weitesten Sinn. Wenn ich einen Auftrag habe, der auf Bettina zugeschnitten ist, vermittle ich sie gern. Wie Sie schon sagten, Herr Korten-Ryhoff: Sie ist etwas Besonderes.“
Karsten runzelte die Stirn. So hatte er sich nicht ausgedrückt. Er war zwar noch nicht ganz gesund, aber sein Gedächtnis funktionierte perfekt. „Sie haben mich durchschaut.“
„Nun ja, ich kann Sie verstehen. Bettina ist tatsächlich ein ganz besonderer Mensch.“
„Ich weiß. Und ich … Also, um ehrlich zu sein, es gibt da ein paar Missverständnisse zwischen uns, die ich so schnell wie möglich ausräumen möchte. Leider bin ich noch in der Klinik, wie Sie vielleicht auch wissen.“
„Ja. Ich hoffe, es geht Ihnen besser.“
Karsten grinste, doch das konnte Verena nicht sehen. „Ich fühle mich zumindest gut genug, um die Boutique persönlich zu eröffnen“, sagte er. „Sicher muss ich nicht extra betonen, dass diese Info unter uns bleiben muss.“
„Na ja …“ Die Agenturchefin zögerte. „Es wird nur schwer möglich sein, Bettina Gehrmann ohne die Nennung des konkreten Auftraggebers in die Schweiz zu ordern.“
„Stimmt.“ Karsten überlegte. „Ich könnte die Bogners fragen. Wir sind ganz gut bekannt. Wenn ich ihnen erkläre, um was es geht … Ja, so machen wir es. Sagen Sie Bettina einfach, es handele sich um die Eröffnung eines neuen Bogner-Shops.“
Verena Trautinger hatte ihre Zweifel, ob dieser Plan gelingen könnte, aber sie behielt sie für sich. KORY-Moden war ein bedeutsamer Konzern, der inzwischen weit über Deutschlands Grenzen hinaus bekannt war. Es war sicher geschäftlich von Vorteil, wenn sie sich den Firmenchef gewogen machte.
+ + +
„Meine Güte, davon träumt der Mensch! Und du machst ein Gesicht, als hättest du gerade ein Date mit George Clooney versäumt!“ Kim schüttelte Bettina leicht an der Schulter. „Wenn du willst, komme ich mit. Als deine persönliche Assistentin. Ich wollte schon immer mal nach St. Moritz!“ Sie verdrehte schwärmerisch die Augen. „Ich seh mich schon am Rad des vereisten Polofelds stehen. Neben mir ein paar Millionärsgattinnen – aber die Männer sehen nur mich.“ Sie grinste. „So was wäre doch ein Filmstoff, oder?“
Jetzt musste auch Bettina lachen. „Die Szene gab’s schon mal. Vergessen?“
„Nein, natürlich nicht. Außerdem … so ein braun-weißes Tupfenkleid passt auch nicht nach Moritz!“ Sie betonte die erste Silbe – was besonders vornehm klingen sollte. Ihr lachendes Gesicht aber sagte, dass sie vom Schicki-Micki-Image des Engadiner Skiortes nicht viel hielt.
„Du bist unmöglich, Kim!“
„Ich weiß. Und du bist dumm, wenn du den Job nicht annimmst. Das sind doch fast schon Ferien!“
Bettina schüttelte den Kopf. „Du machst dir Illusionen, Kleine. Ich bin sicher, dass ich nicht mal eine Skipiste zu Gesicht bekommen werde.“
„Aber du nimmst deine Bretter mit, ja?“
Die ältere Schwester zögerte. „Ich weiß nicht … die hab ich seit drei Jahren nicht mehr benutzt.“
„Dann kauf dir neue. Oder leih dir welche.“
„Darum geht’s doch nicht. Die Skier reichen mir vollkommen aus. Aber ob ich mich überhaupt noch auf ihnen halten kann, ist die Frage.“
„Ach was, das ist wie mit dem Radfahren, das verlernt man auch nicht. Also sagst du zu, ja? Und ich kann mit?“
„Hast du keine anderen Verpflichtungen?“
„Nö.“ Kim zuckte mit den Schultern. „Zumindest gibt es nichts, was nicht auf mich warten könnte.“
„Du bist unmöglich, weißt du das?“
„Aber lieb, nicht?“
Was sollte Bettina dagegen sagen? Kim war wirklich lieb. Und von einem ansteckenden Optimismus. Gerade jetzt, da es Bettina nicht besonders gut ging, tat ihr die Gesellschaft der Schwester gut.
„In Ordnung, du kommst mit. Als Mädchen für alles.“
„Klasse!“ Kim strahlte – und begann schon Pläne zu machen, wie der Aufenthalt in St. Moritz aussehen sollte. Dass sie dort arbeiten musste, verdrängte sie geschickt.
Bettina hingegen bereitete sich so sorgfältig wie immer auf den neuen Auftrag vor. Allerdings irritierte es sich ein wenig, dass ihr Verena Trautinger nur vage Angaben machen konnte, das war sie von der Agentin nicht gewohnt. Da sie aber trotz zweimaligem Nachhakens keine konkreten Infos bekommen hatte, beschloss sie, einfach alles auf sich zukommen zu lassen. Manchmal war es sogar ganz gut, wenn man improvisieren konnte. Und dort oben in dem Bergen, wo man zu dieser Jahreszeit mit reichem Schneefall rechnen musste, war das wahrscheinlich sogar angebracht.
Kurz überlegte sie, ob sie fliegen sollte, verwarf den Gedanken dann aber wieder. Mit dem ganzen Equipement zu fliegen war ziemlich umständlich. Da war es gescheiter, mit dem Wagen zu fahren. Zum Glück waren die Winterreifen noch gut. Schneeketten hatte sie auch – also war sie gewappnet.
Bevor sie an einem nasskalten Februartag aufbrachen, überlegte Bettina, ob sie sich doch noch einmal nach Karsten erkundigen sollte.
Wie es ihm wohl ging? War er entlassen worden? Leben Elaine jetzt wieder bei ihm? Und … vermisste er sie, Bettina, gar nicht? Hatte er ihre gemeinsame Nacht vergessen?
Wahrscheinlich. Sie musste endlich aufhören, an ihn zu denken. Ablenkung und Arbeit – das war genau das Richtige!
+ + +
‚Als er das Engadin geschaffen hat, war der Herrgott in Festtagslaune’ – das hatte mal ein bekannter Mann gesagt. Wer, fiel Bettina nicht ein, doch sie konnte diesen Ausspruch nur bestätigen. Strahlender Sonnenschein. Schnee auf den Bergen, eine leichte Schneedecke noch auf den Straßen. In den kleinen Dörfern hatte sie gesehen, dass die vielen Chalets weiße Mützen trugen unter den zum Teil wertvollen Holzverkleidungen.
Alles in allem wirkte die Landschaft wie aus dem Märchen.
Tief atmete Bettina auf. Ja, hier würde sie den nötigen Abstand gewinnen können, da war sie sicher!
„Hast du ein Hinweisschild auf Sils Maria gesehen?“, fragte sie Kim.
„Nein, aber der Ort muss in Richtung Maloja-Pass liegen. Du musst rechts abbiegen. Es kann nicht mehr weit sein.“
Das hoffte Bettina. Sie war keine leidenschaftliche Autofahrerin, und die kurvenreiche Strecke hatte ihre ganze Konzentration erfordert.
Die ganze Fahrt war anstrengend gewesen, in der Nähe von Frankfurt hatten sie übernachtet, und jetzt, am Nachmittag, waren sie endlich am Ziel! Sonne lag über dem Land, ließ den Schnee auf den Bergen glitzern, als sei er mit Millionen von kleinen Diamanten bestreut worden.
„Wann müssen wir anfangen mit der Arbeit?“, wollte Kim wissen.
„Morgen. Warum fragst du?“
„Na ja … so ein, zwei Tage zum Skilaufen hätte ich schon gern gehabt.“
„Du kannst dir ja morgen die Gegend ansehen. Ich treffe mich mit einem Angestellten der Bogners. Er soll alles regeln.“
„Danke. Du bist die beste Schwester, die ich hab!“
„Das ist wahrhaftig keine Kunst“, lachte Bettina.
Ihr Ziel war ein Appartementhaus im Zentrum von Sils Maria. Direkt gegenüber gab es ein Restaurant, das von einem der führenden Köche der Schweiz geleitet wurde. Doch Bettina warf nur einen kurzen Blick auf das alte Gebäude, das wunderbar restauriert worden war. Die „Alpenrose“ interessierte sie im Moment nicht, wichtig war, wo sie für die nächsten Tage wohnen würden.
„Hier, das ist das Haus gleich gegenüber!“, rief Kim, nachdem sie die Adresse mit den Auftragspapieren verglichen hatte. „Praktischer geht’s ja gar nicht. Los, komm, wenn wir uns beeilen, können wir noch vor dem Dunkelwerden die erste Schneewanderung machen.“
Lächeln gab Bettina nach. Insgeheim musste sie zugeben, dass auch sie es kaum erwarten konnte, ins Freie zu kommen. Sie packten nur die notwendigsten Sachen aus, zogen sich um und machten sich auf einen ersten Erkundungsgang.
Bettina ließ sich rasch von Kims Begeisterung anstecken. Die Gegend war wirklich traumhaft schön. Dazu kam dieses fantastische Wetter … die Sonne schien immer noch, wenn sie auch schon bald hinter den Bergen im Westen untergehen würde. Der Goldton ging bereits in ein sanftes Rotgold über.
„Wir müssen uns unbedingt das Nietzsche-Haus ansehen“, meinte Kim, während sie über den zugefrorenen, mit einer dünnen Schneeschicht bedeckten Silser See spazierten. Immer wieder luden Bänke zum Ausruhen ein. Wo gab es das noch auf der Welt? Bänke und Spazierwege über zugefrorene Seen? „Und das Waldhaus muss auch ganz toll sein. Da haben schon Albert Einstein, Maurizio Pollini und andere Berühmtheiten gewohnt.“
Bettina konnte sich über ihre kleine Schwester nur wundern! „Woher weißt du das alles?“
„Ich werd doch nicht in einen so bekannten Ort reisen und mich vorher nicht informieren! Hier …“ Sie zog einen Reiseführer aus der Umhängetasche. „Wenn du willst, leih ich ihn dir.“
„Ich bin zum Arbeiten hier“, meinte Bettina sie erinnern zu müssen.
„Ja, ja, ich weiß. Aber auch so ein Arbeitstag geht mal zu Ende. Und ich glaub nicht, dass deine Auftraggeber Sklaventreiber sind. Sie wohnen doch selbst hier in der Gegend, oder?“
„Wenn du es sagst …“ Bettina lächelte und wies hinüber zu einem kleinen Gasthaus. „Komm, wir gehen was essen. Ich hab Hunger.“
Na Gott sei Dank, schoss es Kim durch den Kopf. Bettina dachte wieder an so normale Dinge wie Essen und Trinken! Schon deshalb hatte die Reise Sinn gemacht!
In der kleinen Gaststube war es um diese Zeit noch ruhig. Sie aßen eine köstliche Maispoularde, tranken dazu hausgemachte Limonade. Doch schon bald drängte Kim wieder zum Aufbruch. „Lass uns wenigstens noch kurz zum Waldhaus hoch gehen. Allein trau ich mich in den Luxusschuppen nicht rein.“
Bettina winkte ab. „Ach was, das ist doch nicht so interessant. Lieber würde ich auf die Berge hoch fahren.“
„Kannst du doch. Nach der Arbeit. Wir bleiben einfach noch ein paar Tage länger.“
„Und verprassen das Honorar! Das könnte dir gefallen!“
„Warum nicht? Die Welt ist bunt und schön, wir sind jung – und auch schön … was hindert uns?“
„Deinen Optimismus möchte ich haben!“
„Hast du doch … du musst nur endlich diesen Typen vergessen. Es gibt unzählige Männer auf der Welt, es muss nicht Karsten Korten-Ryhoff sein!“
„Kim!“
„Ist doch wahr!“ Das Mädchen winkte der Bedienung und zahlte. „Und jetzt komm“, forderte sie dann die Schwester auf. „Wir spazieren noch vor dem Dunkelwerden zum Waldhaus hoch. Einverstanden?“
„Du gibst vorher ja doch keine Ruhe, du Dickkopf!“
Der Weg zu dem bekannten Luxushotel, das im Baustil der „belle époque“ errichtet worden war, war steil. Bettina konnte verstehen, warum es einige Gäste vorzogen, sich mit dem hoteleigenen Bus oder sehr romantisch mit einem Pferdeschlitten den Berg hinauf bringen zu lassen. Wenn man den Weg am Hotelkomplex weiter ging, so stand es ausgeschildert, kam man ins Fextal.
„Die Pferdekutschen fahren alle dahin“, wusste Kim.
„Und jetzt sag nicht, so einen Ausflug willst du auch machen.“
„Nein, höchstens dann, wenn ich einen tollen Typen kennenlerne. Dann macht so ein romantischer Ausflug Sinn. – Aber jetzt komm, wir sehen mal kurz in die Halle rein.“
Bettina erkannte, dass sie der Neugier von Kim nichts entgegenzusetzen hatte. Und wenn sie ehrlich war, so war auch sie ein bisschen vorwitzig. Obwohl sie schon viele Luxushotels weltweit gesehen hatte, war es immer wieder reizvoll zu schauen, was sich Architekten und Innenarchitekten hatten einfallen lassen.
Im Hotel war es ein wenig düster. Zumindest hatte sie den Eindruck, da sie von draußen kam, wo der Schnee alles noch heller gemacht hatte. Auf einmal durchzuckte es Bettina wie ein Blitz. Das war doch … Karsten!
Der Mann, der eben aus der Bar kam, trug eine dunkle Hose und einen hellen Pulli. Und jetzt wandte er sich um, verschwand in einem anderen Raum.
„Was hast du?“ Kim griff nach Bettinas Arm und zog sie weiter. „Du stehst da wie zur Salzsäule erstarrt.“
„Karsten … da ist Karsten!“ Ihre Stimme war kaum zu verstehen.
„Du bist verrückt. Fang jetzt nur nicht an, in jedem halbwegs gut aussehenden Mann deinen Karsten zu sehen!“
„Er ist nicht mein …“
„Schon gut“, fiel Kim ihr ins Wort. „Ich hab ja gar nichts gesagt. Komm, wir gehen wieder. Hier komm ich mir ziemlich deplaziert vor. Das ist einfach nicht meine Welt.“
„Meine auch nicht …“ Fast fluchtartig stürmte Bettina aus dem Hotel. Erst draußen, in der kalten Luft, gelang es ihr wieder normal zu atmen. Zwei Pferdekutschen fuhren an ihnen vorbei, die acht Männer, warm einpackt in dicke Decken, lachten und riefen den Schwestern ein paar Scherzworte zu.
„Wir haben Chancen!“, grinste Kim. „Also – was machen wir heute Abend?“
„Gar nichts.“ Bettinas gute Laune war schlagartig verflogen. „Ich zumindest geh früh schlafen. Morgen muss ich fit sein. Außerdem haben wir noch nicht mal unsere Klamotten ausgepackt.“
„Das sind doch nur ein paar Handgriffe.“
„Bei dir vielleicht.“ Bettina schüttelte den Kopf. „Wenn du unbedingt um die Häuser ziehen musst – ich hab nichts dagegen. Mit mir kannst du aber nicht rechnen.“ Sie hätte es nie im Leben zugegeben, aber tief im Innern saß die Angst, dass Karsten vielleicht doch hier sein könnte – und dass sie ihm unerwartet gegenüber stehen würde, wenn sie ausging.
Nein, das tat sie sich nie mehr an! Sollte er mit seiner Elaine glücklich werden! Für sie war das Kapitel Karsten Korten-Ryhoff endgültig beendet!
Genau fünfzehneinhalb Stunden später musste sie sich eingestehen: Alles Lüge! Selbstbetrug!
Ein strahlend heller Morgen. Glitzernder Neuschnee, der über Nacht gefallen war und alles mit einer weißen Puderschicht überstäubte. Gut gelaunte Urlauber, die entweder zu den Liften und Loipen eilten oder genüsslich eine Wanderung machten.
Bettina wartete war allein zu der ersten Besprechung mit dem Geschäftsführer der Nobelboutique gegangen. Kim sollte den Tag genießen. Noch konnte sie ihr sowieso nicht helfen, also war es nur legitim, dass sie sich einen Urlaubstag gönnte.
Bettina war überhaupt überrascht davon, wie sensibel ihre jüngere Schwester auf einmal war. Das hätte sie sich nie vorstellen können! Immer hatte Kim den Eindruck erweckt, als sei sie egoistisch oder gar leichtsinnig. Aber jetzt, da es drauf ankam, war sie hilfsbereit und selbstlos.
Das Ladenlokal war elegant eingerichtet. Noch werkelten ein paar Dekorateure im Innern. Der Namenszug über dem Eingang war noch mit einem breiten Tuch abgedeckt, und auch auf der Eingangstür klebten ein paar bunte Pappstreifen und verhinderten, dass man lesen konnte, welches Label hier verkauft werden würde.
Bettina dachte sich nichts dabei, sie war ganz auf die bevorstehende Unterhaltung konzentriert, als sie die Tür öffnete und in den weitläufigen Verkaufsraum trat.
Die Regale waren gut gefüllt, an einigen Ständern hingen wunderschöne Modelle …
Bettina runzelte die Stirn, sie trat näher an einen der Ständer heran und nahm die Kleidungsstücke in die Hand. „Das darf doch nicht wahr sein!“ So, als hätte sie sich an dem edlen Stoff verbrannt, ließ sie die Seidenbluse, die sie gerade angefasst hatte, fallen. Das waren keine Bogner-Sachen, die hier ausgestellt waren, das waren … KORY-Modelle!
„Hallo, Bettina!“ Aus dem hinteren Teil kam Karsten. Sein Lächeln war voller Zärtlichkeit. „Du hast es also gemerkt …“
„Für blöd hältst du mich? Natürlich hab ich es gemerkt. Leider zu spät.“ Sie machte Anstalten, zur Tür zu gehen.
Aber mit drei langen Schritten war er bei ihr und hielt sie zurück. „Bitte, bleib hier und hör mir zu.“
„Warum? Was hätte ich davon?“
„Die Wahrheit zu erfahren. Und die Wahrheit ist, dass ich dich liebe. Nur dich.“
Diese Aussage war ihr nicht mal eine Antwort wert! Sie schnaubte nur leicht durch die Nase und machte sich mit einem Ruck aus seinem Griff frei.
„Bitte, Liebes, du musst mich anhören! Jeder Angeklagte hat schließlich das Recht, sich zu verteidigen. Das musst du mir auch zugestehen. Obwohl ich eigentlich noch nicht mal weiß, was du mir vorwirfst.“
„Ach nein? Das weißt du nicht?“ Ihre Augen schossen Blitze. „Sag mal, bist du wirklich so abgebrüht? Oder ist das schon gemeingefährliche Ignoranz?“
Ein junger Elektriker, der gerade hereinkam, weil noch zwei Leitungen überprüft werden sollten, zog sich rasch wieder zurück. Hier herrschte dicke Luft, da war Rückzug geboten.
„Bettina … bitte! Und sag schon, was los ist? Was hat dich so wütend gemacht? Ich hab wirklich keine Ahnung.“
Sie hatte große Lust, ihm die beiden Aktenordner, die sie unterm Arm trug, an den Kopf zu werfen. Vielleicht brachte das ein paar Dinge in seinem Hirn wieder in Ordnung. Aber das kam natürlich nicht infrage. Stattdessen trat sie so dicht vor ihn hin, dass sie die kleinen goldenen Punkte in seinen Augen sehen konnte. Er hingegen sah, dass ihre Lider vor Erregung zuckten. Und auch die Lippen vibrierten leicht …
Wie gern hätte er sie geküsst!
Aber da fauchte Bettina schon los: „Dass du die Dreistigkeit hast, mit mir zu schlafen, während Elaine ein Kind von dir erwartet – das ist einfach unverzeihlich.“
„Wie bitte? Was sagst du da?“
„Versuch gar nicht erst, es zu leugnen. Ich hab euch genau gesehen, wie ihr in der Kinderboutique verschwunden seid!“
„Tina, Liebling, das ist doch schon geklärt! Wir haben Sachen für eine Mitarbeiterin ausgesucht und …“
„Pah! Erzähl das dem Weihnachtsmann! Außerdem … das ist ja noch nicht alles. Kaum dass du aus dem Koma aufgewacht bist, schmachtest du deine Elaine an … ich war Luft für dich!“
„Das stimmt doch gar nicht!“ Er nahm ihre Arme, rüttelte sie und sah ihr dabei tief in die Augen. „Bettina, ich hab mich so gefreut, dich zu sehen. Dich! Nur dich!“
„Das hast du aber verdammt gut verbergen können!“
Immer noch hielt er sie fest, zog sie an sich – so fest, dass sie fast keine Luft mehr bekam. „Ich schwöre, ich hab nur dich gesehen, als ich endlich wieder wach war. Dich allein!“ Und ehe sie dazu kam, wieder so dumme Dinge zu sagen und ihm zu widersprechen, küsste er sie.
Wildes Trommeln auf seiner Brust … Tritte gegen sein Schienbein … Der Versuch, sich aus seinem Griff zu befreien … Sollte sie sich ruhig aufführen wie eine Wildkatze, diesmal würde er nicht nachgeben!
Und wirklich – er küsste sie so lange, bis sie einfach keine Luft mehr bekam, bis ihr Widerstand erlahmte und sie in seinen Armen ganz schwer wurde. Sacht glitten seine Hände jetzt über ihren Rücken, streichelten ihren Nacken, das Haar.
„Glaubst du mir jetzt endlich?“ Ganz dicht war sein Mund vor ihrem.
„Hmm … ich weiß nicht recht …“
„Biest!“ Er lachte, schob sie ein wenig von sich ab und sah ihr in die Augen.
„Küss mich noch mal. Das ist ein ziemlich überzeugendes Argument.“
Dem kam er nur zu gern nach. Die beiden Handwerker, die schon wieder durch den Raum liefen, wedelte er fort – was die Männer grinsend zur Kenntnis nahmen.
„Das mit der Eröffnung übermorgen wird nichts, wenn das so weitergeht“, meinte der ältere von ihnen.
„Das ist doch der Chef selbst. Der muss wissen, was er tut. Außerdem … sagst du mir nicht immer, dass Geld nicht alles im Leben wär?“
„Man muss es sich nur leisten können. Komm, wir machen drüben weiter, da sind noch ein paar Kleinigkeiten zu feilen, da stören wir nicht.“
„Hoffentlich gibt’s da viel zu feilen“, grinste sein Kollege. „Das da dauert …“
Bettina und Karsten hielten sich immer noch umarmt. „Du glaubst mir also endlich, dass Elaine Vergangenheit ist?“
„Na ja …“
„Bettina!“
Sie lachte und küsste ihn übermütig auf die Nasenspitze. Sie war ja so wahnsinnig froh! Die Sonne schien noch heller – soweit das überhaupt möglich war. Dieses Geschäft … es kam ihr wie ein Stück vom Paradies vor.
Karsten schien das anders zu sehen. „Komm weg von hier. Die Handwerker wollen weiter machen.“
„Aber die Eröffnung … was ist mit den Bogners? Haben die hier nun einen weiteren Shop oder nicht?“
Lachend hob Karsten die Hände. „Ich bekenne mich schuldig – aber das war die einzige Möglichkeit, dich hierher zu locken. Die Bogners kenne ich von einigen Events und Modeveranstaltungen her. Sie haben mir ein bisschen geholfen – du wärst ja wohl nicht nach St. Moritz gekommen, um die Einweihung einer neuen KORY-Filiale zu dokumentieren, oder?“
„Da wär ich doch lieber bis ans Ende der Welt gereist.“ Sie lachte. „Das schreit nach Strafe, Karsten Korten-Ryhoff!“
„Ich nehme jede an, wenn sie von dir kommt. Was hältst du davon, wenn wir das ganz unter uns ausmachen?“
Dagegen war nun wirklich nichts zu sagen. Und die Suite in seinem Hotel war gemütlich, das Bett weich, der Champagner in der kleinen Bar exquisit.
„So eine Versöhnung hat was“, murmelte Bettina.
„Nein, um Gottes willen, tu mir das nicht an“, grinste Karsten. „Das halte ich nicht aus.“
„Was?“ Sie beugte sich über ihn und begann jeden Zentimeter seines Brustkorbs zu küssen. „Was ist daran so schlimm?“
„Du machst mich schwach …“
„Schön!“ Sie war ja so glücklich! Und übermütig wie nie zuvor. Sie hätte die ganze Welt umarmen können, aber da war dieser Mann – ihr Mann – und so begnügte sie sich damit, ihn zu umarmen. Wieder und wieder. Und er … er hielt sie fest. Flüsterte ihr tausend Verrücktheiten ins Ohr. Liebte sie – und dann schliefen sie am helllichten Tag erst mal für zwei Stunden ein.
Kim machte unterdessen einen Info-Gang durch St. Moritz – wie sie es für sich nannte. Die Eleganz der Geschäfte beeindruckte sie nicht, auch die Luxushotels konnten sie nicht reizen. Doch der Reitstall unten am See, der zog sie wie magisch an. Einige der Tiere standen, mit dicken Decken zugedeckt, draußen und genossen die Sonne.
Eine Rappstute mit einem hellen Stern auf der Stirn hatte es Kim besonders angetan. „Du bist aber eine Schöne.“ Sie versuchte das Tier zu locken.
„Vorsicht, der Zaun ist elektrisch geladen. Und unsere Diva beißt.“ Ein junger Mann im Reitdress kam zu ihr an den Zaun.
„Mich beißt kein Tier!“
„Na, da bin ich nicht sicher.“
„Wollen wir wetten?“ Kim reckte das Kinn vor.
„Meinetwegen. Worum?“
Kim zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Um einen Drink?“
„Einverstanden. Heute Abend in der Bar vom Hotel drüben.“ Er wies auf eins der Luxushotels.
„Geht’s auch was einfacher? Ich bin kein Krösus.“ Kim lachte ihn an.
„Also denkst du, du könntest verlieren.“
„Auf keinen Fall! Ich will dich nur nicht ausnehmen. So ein Pferdeknecht verdient ja sicher auch nicht die Welt.“ Sie schwang sich über den Zaun, näherte sich der Stute, die leise schnaubte, sich dann aber willig streicheln ließ. Kim wurde übermütig, nahm ein bisschen Anlauf – und saß auf ihrem Rücken.
„Hey, Vorsicht! Das geht nicht, weil …“
Aber da ritt sie schon los, einmal über die schneebedeckte Wiese, dann zügelte sie das Pferd dicht vor ihm und glitt wieder zur Erde. „Na, was sagst du jetzt?“
„Ich gratuliere. Und erwarte dich um acht Uhr hier. Was wir dann machen …“ er gab ihr einen Nasenstüber, „ich lass mir was einfallen.“
Kim zögerte. Stirnrunzelnd sah sie den jungen Pferdepfleger an. Und stellte fest: Seine Hände waren ausgesprochen gepflegt und sauber. Die Jacke von einem Edel-Designer, die Stiefel handgenäht. „Du … du bist kein Pferdeknecht, oder?“
Er lachte. „Nein, wie kommst du denn darauf? Ich hab meine Diva hier besucht. Und die beiden anderen Pferde, die wir hier stehen haben.“
„Aha. Eigene Pferde hast du.“
„Ja. Meine Familie. Ist das schlimm?“
„Nein. Aber es wäre mir recht, wenn du dich endlich mal vorstellen würdest. Ich heiße Kim.“
„Christian. Christian Berghoffer.“ Gespannt sah er sie an. Würde sie mit dem Namen was anfangen können?
Kim konnte nicht. Und entspannte sich sichtlich. „Gut, Christian. Dann bis nachher. Ich muss jetzt zurück ins Hotel. Meine Schwester wartet sicher schon.“
„Aha. Du reist mit Anstandsdame“, spöttelte er.
„Nein, ich bin die Anstandsdame. Also richte dich danach.“ Sie grinste, gab dem Pferd noch einen liebevollen Klaps und wollte wieder über den Zaun klettern. Im letzten Moment hielt der Mann sie zurück.
„Warte … damit du mich nicht vergisst!“ Und schon hatte er sie geküsst.
Sekundenlang hielt Kim still. Das war definitiv der beste Kuss, den sie je bekommen hatte. Aber dieser Christian war auch der frecheste Kerl, den sie je getroffen hatte. Nach zehn Minuten Bekanntschaft küsste man sich nicht!
Aber … Spaß gemacht hatte es schon. „Bis nachher.“
„Ich werd auf dich warten.“ Christian sah ihr nach, bis ihr gelber Anorak nicht mehr zu sehen war. Dieses fremde Mädchen … es war genau die Frau, die er sich immer vorgestellt hatte. Mit einem offenen Lachen, strahlenden Augen, einem süßen Mund … Und vor allem: Sie wusste nicht, wer er war. Sie schien nur ihn, den Mann Christian, zu mögen. Dass seiner Familie eine große Privatbank in der Schweiz gehörte, war ihr wohl nicht klar. Ein weiterer Grund, diese Kim näher kennenzulernen!
Gut gelaunt ging Christian zurück in den Stall, wo er sich mit dem Pferdepfleger Julian über die etwas schwierige Stute Diva unterhielt, die demnächst in einem Rennen starten sollte.
Kim ging noch ein Stück am See entlang spazieren, aber dann wurde sie unruhig. Es gab noch einiges zu tun, bis sie sich am Abend mit Christian traf. Sie musste die Haare waschen, sehen, was sie anziehen könnte … eventuell musste Bettina ihr was leihen. Dann sollte sie vielleicht mal in der Apotheke vorbeigehen … besser die eigenen Kondome als keine.
„O verdammt, es hat mich erwischt. Das war nicht vorgesehen, Kim Gehrmann!“
+ + +
„Ich muss Kim Bescheid sagen. Sie wird auf mich warten.“ Bettina richtete sich auf und strich mit dem Zeigefinger sanft die Konturen von Karstens Gesicht nach.
„Ach was, sie ist schon groß. Ich bin sicher, sie hat sich sehr gut allein beschäftigt.“
„Wir wollten noch durchsprechen, was wir morgen tun müssen.“
„Gar nichts musst du tun“, meinte Karsten. „Am liebsten wär’s mir, du würdest dich nur um mich kümmern.“
„Das könnte dir so passen!“ Sie lachte. „Ich hab hier einen Job zu machen! Und wie ich gehört hab, legt der Chef des Unternehmens ziemlich viel Wert auf gute Arbeit.“
„Tatsächlich! Na, dann solltest du dich optimal vorbereiten.“ Er lachte. „Wenn ich dir irgendwie helfen kann …“
„Danke, das hast du schon getan.“ Sie schwang die Beine aus dem Bett. „Und jetzt muss ich mit Kim telefonieren.“
Er sah ihr zu, wie sie zum Schreibtisch ging. Eine perfekte, schlanke Gestalt mit weiblichen Rundungen. Nicht so ein dürres Wesen, wie es Elaine am Schluss gewesen war. Die Liebe zu Bettina durchflutete ihn wie ein heißer Strom, und er wusste genau, dass er diese Frau nie im Leben mehr hergeben würde.
Bettina wählte Kims Handynummer, nach dem fünften Durchläuten erst ging die Schwester dran. „Wo steckst du? Ich hab im Hotel vergeblich nach dir gefragt. Du, mir ist was total Irres passiert.“ Kim sprudelte los, ohne Bettina auch nur einmal zu Wort kommen zu lassen. „Ich hab einen ganz süßen Typen kennengelernt. Wir gehen heute Abend zusammen aus. Du, ich hab gar nichts anzuziehen. Kann ich deinen schwarzen Leinenanzug haben? Dazu mein lila Seidentop … das müsste doch gut aussehen, oder?“
„Hallo! Was ist denn mit dir passiert? Wieso willst du dich so in Schale schmeißen?“
Kim zögerte. „Na ja … ich glaub schon, dass er was Besseres ist. Nicht so ein Yuppie-Typ.“
Bettina lachte leise. „Ich fass es nicht. Meine Schwester wird seriös!“
„Und was ist mit dir? Wo bist du gerade?“
„Ich benehme mich gerade unseriös. Ich bin bei Karsten.“
„Ach nein! Dann seid ihr … Ist jetzt alles in Ordnung?“
„Ja, alles in Ordnung“, versicherte Bettina.
„Dann brauchst du deinen guten Hosenanzug also heute Abend nicht, oder?“
„Hey, mach nicht so anzügliche Bemerkungen!“
„Gar nicht. Das war eine rein sachliche Feststellung.“ Kim lachte. „Ich wünsch dir Glück, Große.“
„Ich dir auch. Einen schönen Abend.“
„Euch auch. Grüß deinen Traummann von mir. Er soll sich nur ja nicht einfallen lassen, dich noch mal so unglücklich zu machen.“
„Wird er nicht.“ Bettina sagte es voller Überzeugung. Dann drehte sie sich um und ging zurück zu Karsten. „Grüße von Kim. Du sollst lieb zu mir sein.“
„Mit dem größten Vergnügen.“ Karsten streckte die Arme nach ihr aus. Und dann nahm er Kims Worte sehr, sehr wörtlich …
Spät am Abend erst verließen sie das Hotel. „Ich hab Hunger“, gestand Bettina.
„Ich auch.“ Karsten lachte. „Ich weiß auch, woher das kommt.“
„Wirklich?“ Strahlend sah sie zu ihm auf. „Dann komm, lass uns was dagegen tun. Ich möchte dich gestärkt sehen.“
„Unersättliches Weib.“
Bettina zwinkerte ihm zu. Sie war unendlich glücklich. Übermütig und von bester Laune. Sie hätte die ganze Welt umarmen mögen. Karsten führte sie in eins der schönsten Lokale des Ortes. Vom Speisesaal aus hatte man einen wunderbaren Blick auf den See, dessen Eisfläche im fahlen Mondlicht silbrig schimmerte.
Bettina genoss die gepflegte Atmosphäre des Restaurants, aber als sie nach dem Essen zu einem kleinen Spaziergang aufbrachen und es sacht zu schneien begann, fand sie das noch viel schöner.
„So stell ich mir das Paradies vor.“ Sie wies nach oben, wo sich die Wolkendecke gerade teilte und vereinzelte Sterne aufblitzten. „Das ist wie ein Gruß vom Himmel.“
Karsten zog sie noch ein wenig fester an sich. „Mein Himmel ist hier bei dir. Ich liebe dich, Bettina.“
„Ich liebe dich, Karsten.“ Kurz lehnte sie den Kopf an seine Schulter. „Einfach haben wir es uns nicht gemacht, was?“
„Die kürzesten Wege sind nicht immer die besten.“
„Mein kluger Mann!“
„Das bin ich. Und deshalb hab ich mir auch die tollste Frau der Welt ausgesucht.“
+ + +
Der nächste Tag war wieder strahlend schön. Das Engadin machte seinem Ruf alle Ehre und zeigte sich als kleines Paradies auf Erden.
In der Nacht hatte es Neuschnee gegeben, alles wirkte wie mit einer weißen Watteschicht bedeckt. In der Boutique wurde schon mit Hochdruck gearbeitet. Models, Stylistin und Visagistin agierten in einem Hinterzimmer, während Bettina und Kim begannen, die ersten Fotos zu schießen.
Viele Prominente, die sich gerade in St. Moritz aufhielten, waren zur Eröffnung eingeladen worden. Aber auch viele Neugierige erschienen, und schon bald war das Ladenlokal restlos überfüllt. Erst als die kleine Modenschau begann und Bettina in Ruhe ein paar Bilder schießen konnte, lichtete sich das Chaos.
Karsten wirkte sehr zufrieden und entspannt. Er hatte genau die Publicity bekommen, die er sich gewünscht hatte. Zudem waren einige Schauspielerinnen da, und der clevere Geschäftsmann wusste, dass ihre Namen in Verbindung mit seinem Firmenlabel Gold wert waren.
„Bettina – machst du bitte mal ein Foto von Corinna? Und hier … ich darf dich mit Frau Stein bekannt machen … Uschi, das ist meine Verlobte, Bettina Gehrmann.“
„Du bist in festen Händen?“ Die Schauspielerin, bekannt vor allem aus großen Fernsehserien, lachte amüsiert. „Das freut mich! Ich gratuliere euch beiden.“ Sie lächelte Bettina zu. „Kompliment, Sie müssen ihn tief beeindruckt haben. Er galt immer als eiserner Junggeselle.“
„Ich dachte, er hätte einen Ruf als Casanova zu verteidigen gehabt“, konterte Bettina.
„Das war doch nur was fürs Geschäft. Glaub ich wenigstens“, meinte die Schauspielerin, jetzt leicht irritiert.
„Du wenigstens hältst zu mir. Hier … darf ich dir dieses Twinset schenken?“
Sie lachte. „Wenn ich für jede Nettigkeit, die ich über dich sage, ein Teil aus der neuen Kollektion bekomme, lass ich mir noch ganz viel einfallen.“
Bettina zwinkerte ihr zu. „Wir machen einen Deal – ich fotografiere Sie in dem Mantel, zusammen mit Karsten vor der Boutique – und Sie handeln mit ihm aus, was Sie dafür bekommen.“
„Du, das ist wirklich die richtige Frau für dich. Klug und schön obendrein.“ Der Fernsehstar, der es wirklich nicht nötig hatte, sich mit ein paar Klamotten bezahlen zu lassen, posierte geduldig mit Karsten vor dem Lokal. Eine tolle Werbung!
Bettina war zufrieden, Karsten erst recht. „Du bist wundervoll“, raunte er ihr zu.
„Danke, ich hör’s immer wieder gern.“
„Morgen fahren wir auf den Corviglia. Als Belohnung.“
„Hmm. Was erwartet mich da?“
„Eine traumhaft schöne Aussicht, ein sagenhaftes Skigebiet – und einer der besten Köche der Schweiz. Seine Pizza mit Trüffeln musst du probieren.“
„Quatsch, das ist dekadent.“
„Das ist köstlich. Aber sicher finden wir auch was anderes. Zumindest wird dir die Aussicht von dort oben gefallen. Man hat das Gefühl, dass einem die ganze Alpenwelt zu Füßen liegt.“
Zuerst aber war an eine solche private Unternehmung nicht zu denken. Der Tag war ausgefüllt mit Arbeit. Bettina und Kim waren bis zum Einbruch der Dämmerung im Einsatz, die neuen KORY-Modelle mussten immer wieder gezeigt werden und fanden viele begeisterte Kundinnen. Da galt es, so viele Fotos zu machen wie eben möglich.
„Es war gar nicht so falsch, auf sportlich-elegante Mode zu setzen. Und die Kombination mit Pelz … perfekt!“ Bettina wies auf ein nougatfarbenes Kostüm mit einem schmalen Pelzkragen. Der Clou waren die mit Pelz verbrämten Knopflöcher. „Ich glaube, das war der Renner. Ich hab mitgekriegt, dass mindestens drei Frauen dieses Modell geordert haben.“
„Das wird Annette freuen. Es ist ihr Lieblingsmodell. Sie fand ihre Idee selbst sehr gelungen.“
„Ist sie auch. So, und jetzt mach ich noch ein Bild von dir – dann ist Schluss.“
„Nein, nein, Kim soll ein Foto von uns beiden machen. Heute ist schließlich ein sehr denkwürdiger Tag.“
„Inwiefern?“
Er lächelte sie zärtlich an. „Wart’s nur ab.“
„Nein, nein, spann mich nicht länger auf die Folter.“
„Dann komm mit.“ Er zog sie einfach nach draußen. Und dort, in der Dämmerung, steckte er ihr einen schmalen Ring über den Finger. „Willst du mich heiraten, Bettina? So schnell wie möglich?“
Eine kleine Sekunde nur zögerte Bettina, dann nickte sie. „Ja, ich will.“
„Ich liebe dich!“
„Wir sagen es den anderen aber noch nicht“, bat Bettina. „Sonst hört die Party heute gar nicht mehr auf.“
Kim allerdings bemerkte den Ring an Bettinas Finger sehr bald. „Wow! Das nenn ich einen edlen Klunker. Dein Karsten ist wirklich ein Hauptgewinn. Da könnte man ja glatt neidisch werden.“ Sie lachte und wies auf einen jungen Mann, der gerade vor der Boutique aus einem Taxi stieg. „Aber ich bin ja großzügig.“
Bettina stieß sie liebevoll in die Seite. „Das ist dein Christian?“
„Ja.“ Kim wurde nervös. „Der ist ja viel zu früh! Wir waren erst für zehn Uhr verabredet.“
„Christian Berghoffer … Kleines, du weißt zu überraschen. Jetzt versteh ich, warum du meinen Hosenanzug haben wolltest.“
„Ich versteh immer noch nichts.“ Kim sah stirnrunzelnd von einem zum anderen – erst recht, als Karsten und Christian sich wie gute Bekannte begrüßten.
„Du weißt also nicht, wer er ist?“
„Ein netter Typ. Arbeitet bei seinem Vater im Geschäft mit. Reitet gern. Scheint nicht ganz arm zu sein, aber … vielleicht gibt er auch nur an. Tun ja viele hier.“
„Er stapelt tief.“ Bettina musste sich ein Lachen verbeißen. „Aber das soll er dir mal ruhig selbst erzählen. Wir haben jetzt was vor, Karsten und ich.“
„Verlobungsfeier zu zweit?“
„Nein. Schlittenfahrt zu zweit.“
„Wie romantisch!“ Kim verdrehte die Augen. Aber als Christian sie gleich darauf fragte, ob sie so eine Fahrt auch gern mal machen würde, nickte sie.
„Dann komm, ich lasse anspannen.“
„Aber du kannst doch nicht …“
„Ich kann.“ Er lachte. „Wenn du willst, hole ich dir sogar die Sterne vom Himmel.“
„Nur nicht. Die hängen da oben ganz gut. Mir reicht es, wenn du mir was zu essen besorgst. Ich hab den ganzen Tag keine Zeit zum Essen gekriegt. Mir hängt der Magen in den Kniekehlen.“
„Das zum Thema Romantik“, grinste er.
„Bin ich schon!“ Kim meinte sich verteidigen zu müssen. „Aber erst wenn ich satt bin.“
„Dann los, auf zur nächsten Frittenbude. Anschließend weiß ich was Besonderes.“ Er verschwieg, dass er ein Candlelight-Dinner in der Suite, die seiner Familie in einem der besten Hotels gehörte, arrangiert hatte. Sollte Kim ruhig noch eine Weile denken, er sei ein Durchschnittsmann mit Durchschnittseinkommen. Christian fand’s herrlich, um seiner selbst geliebt zu werden. Und dass die spröde Kim mit der frechen Klappe sich in ihn verliebt hatte, verrieten ihre Augen.
Bettina und Karsten aßen in seinem Hotel eine Kleinigkeit. Beide waren viel zu erschöpft, um noch auszugehen. So tranken sie noch an der Bar eine Flasche Rotwein, dann gingen sie schlafen.
„Heute bin ich der glücklichste Mann der Welt“, sagte Karsten, als sie eng umschlungen im Bett lagen. „Wer hätte gedacht, dass wir zwei einmal das absolute Traumpaar abgeben würden.“
„Annette.“
„Wie bitte?“
Bettina lachte leise. „Annette hat mir schon damals in Paris gesagt, dass wir zwei füreinander geschaffen wären. Aber ich hab ihr natürlich nicht geglaubt.“
„Natürlich nicht? Wieso hattest du Zweifel?“
„Weil du der größte Macho warst, dem ich je begegnet bin. Außerdem hattest du nur Augen für Elaine.“
„Ach was, das war doch nur ein Flirt.“
„Ein heftiger Flirt.“
„Na ja …“ Er küsste sie zärtlich. „Dafür werde ich ab jetzt keine andere Frau mehr ansehen.“
„Schade. Das wird die Firma in den Ruin treiben.“ Bettina kicherte. „Ein Modemacher, der keine Frauen mehr anschaut … Ich weiß nicht, ob ich mit einem Bankrotteur glücklich werden kann.“
„Biest!“
„Aber ein liebes!“
„Stimmt.“ Er beugte sich über sie – und dann wurde nicht mehr gesprochen.
Bettina wurde wach, weil Karsten im Nebenzimmer telefonierte. Er sprach mit Annette, und er gab seiner engsten Mitarbeiterin ganz konkrete Anweisungen für die nächsten beiden Wochen.
„Bettina und ich werden Ferien machen. Ganz ungestörte Ferien, wenn’s geht. – Ja, ich hab sie gefragt. Sei nicht so neugierig. Aber wenn’s dich beruhigt: Sie wird mich heiraten. Danke, ich bin auch sehr glücklich. Und jetzt grüß mir deinen Doktor – ich leg jetzt auf.“
Er kam zum Bett. „Hast es ja gehört: Annette tut so, als wäre es ein Wunder, dass du meinen Heiratsantrag angenommen hast.“
„Sie kennt dich!“
„Hör auf! Ich bin der seriöseste Bräutigam der Welt. Aber auch ein ungeduldiger. Aufstehen, Schönheit, jetzt geht’s hoch auf den Berg. Ich lege dir die Welt zu Füßen.“
Und so kam es Bettina wirklich vor, als sie zwei Stunden später aus der Gondel stiegen, die sie hoch zum Corviglia gebracht hatte. Die Bergriesen ringsum glitzerten in der Sonne. Majestätisch wirkte die Landschaft, einmalig schön und erhaben.
„Jetzt weiß ich, warum so viele berühmte Menschen hier gelebt – oder zumindest Urlaub gemacht haben. Es ist inspirierend. Und auch irgendwie beruhigend. Mir macht noch nicht mal der Skizirkus was aus.“
„Na ja …“ Karsten runzelte leicht die Stirn. „Ich find’s schon netter, wenn man weniger Fremde um sich rum hat und in Ruhe Skilaufen oder einfach in einem Liegestuhl liegen und die Landschaft auf sich wirken lassen kann. Aber hier oben muss man einfach mal gewesen sein.“ Er winkte einem großen, dunkelhaarigen Mann zu. „Das ist Reto, einer der besten Köche, wie schon gesagt.“
Der Starkoch führte sie auf die sonnenbeschienene Terrasse. Ein wenig abseits stand ein Tisch, auf dem rote Rosen prangten. Champagner war kalt gestellt und der Chef schenkte persönlich ein.
„Auf uns.“ Karsten trank Bettina zu. „Auf ein langes gemeinsames Leben.“
„Ich komme mir ein bisschen vor wie eine Märchenprinzessin.“ Bettina sah sich um. „Es ist wunderbar, aber …“
„Aber du wärst lieber mit mir in einer Hütte, ganz allein.“
„Stimmt.“ Sie sah ihm in die Augen. „Meinst du, das lässt sich machen?“
Er griff nach ihrer Hand, spielte mit den schlanken Fingern. „Weißt du, was Liebe ist?“
Fragend sah sie ihn an.
„Wenn der eine ganz genau weiß, was der andere möchte, wovon er träumt.“ Er hauchte einen Kuss auf die Innenfläche ihrer Hand. „Deshalb essen wir jetzt hier noch köstlich, dann fahren wir hinüber nach Sils Maria. Dort, am Ortsende, gibt es ein kleines Holzhaus …“
„Das hast du gemietet! Wunderbar!“ Bettina strahlte ihn an, und Karsten verschwieg, dass er dieses Haus schon vor zwei Jahren gekauft hatte. Nie zuvor war eine Frau mit hierher gekommen, dieses kleine Haus, das ganz im alpenländischen Stil eingerichtet war, hatte ihm immer als Fluchtburg gedient.
Bettina sollte die erste Frau sein, die hier mit ihm lebte. Und wenn der Himmel ihnen gnädig war, dauerte es eine wunderbare Ewigkeit, dieses Leben voller Liebe.
Den Tag verbrachten sie allerdings noch oben auf dem Berg. Bettina war keine allzu gute Skiläuferin, doch die Abfahrten, die Karsten auswählte, waren nicht allzu schwierig, und so konnte sie den Schnee genießen.
Später dann, über dem Piz Nair zogen schon rotgoldene Wolken auf und kündeten die nahe Dämmerung an, fuhren sie ins Tal zurück und von dort aus sofort nach Sils Maria.
„Ich hab meine Sachen nicht dabei“, fiel es Bettina auf einmal ein.
„Kim hat schon alles umgepackt. Sie ist ein Schatz, deine kleine Schwester.“
„Und du weißt zu überraschen.“
Karsten lächelte nur. Die größte Überraschung würde gleich erst kommen – und wirklich, Bettina war sprachlos, als sie das wunderschöne kleine Chalet erreicht hatten. Der erste Stock war von einem Balkon umgeben, der mit reichem Schnitzwerk versehen war. Die Haustür, alt und mit Intarsien versehen, besaß keine Klingel, sondern einen altmodischen Klopfer.
„Hier, der Schlüssel.“ Karsten gab ihr einen Schlüsselbund mit dem Buchstaben B.
„Für mich?“
„Ja. Wenn dir das Haus gefällt … dann darfst du mich in deine bescheidene Hütte bitten.“ Gespannt wartete er auf Bettinas Reaktion.
Langsam hob sie die Arme. „Du bist der wunderbarste, verrückteste, unmöglichste Mann der Welt.“
„Magst du unmögliche und verrückte Männer?“ Mit blitzenden Augen sah er sie an.
„Sehr. Und jetzt zeig mal, ob du auch stark bist. Wenn ich richtig informiert bin, trägt der Bräutigam die Braut über die Schwelle des Heims.“
„Ach du liebes Bisschen – eine Frau mit Traditionsbewusstsein!“
„Du sagst es. Und mit Prinzipien. Und deshalb bestehe ich auf rascher Legalisierung unseres Verhältnisses!“
„Lieber heute als morgen“, flüsterte er, dann hob er sie hoch – und mit Schwung fiel die alte Tür hinter ihnen zu.
ENDE